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Cis-Mann (36), weiß, sucht ...

Aktualisiert: 18. Mai 2023


Christian Decker - Kommunikationstrainer | Keynote Speaker | Public Speaking Coach

... einen offenen Dialog, den Blick über den eigenen Tellerrand, Meinungsaustausch und neue Perspektiven.


Ich bin Mitte dreißig und weiß, geboren und aufgewachsen in Österreich, eines der reichsten Länder der Welt. Ich identifiziere mich als Mann in Übereinstimmung mit meinem biologischen Geschlecht und lebe, verheiratet mit (m)einer Frau in Wien. Um es also auf den Punkt zu bringen:


Ich habe den gesellschaftlichen Lotto-Sechser geknackt.


Gender Pay Gap, institutioneller und Alltagsrassismus, Sexismus oder Diskriminierung - diese Themen kenne ich alle. Und zwar aus Erzählungen, Gesprächen, aus den Medien und als kopfschüttelnder Zeuge. Direkt betroffen bin ich aber nicht.


Ich wurde noch nie von einem Vorgesetzten gefragt, wie es denn mit meiner Familienplanung aussieht, damit die Weiterbildungsmaßnahmen entsprechend geplant werden können. Verkehrskontrollen verbinde ich mit kurzem Smalltalk und einem neutralen bis freundlichen "Gute Fahrt noch!". Bei der Wohnungssuche bin ich noch nie nach meiner Nationalität gefragt worden und wenn sich Workshop-Teilnehmer:innen beim Mittagessen und dem Blick auf meinen Ehering erkundigen, was denn meine Frau beruflich macht, bin ich noch nie in Verlegenheit geraten, erklären zu müssen, dass es in meinem Fall keine Frau, sondern einen Mann gibt. Ich weiß nicht, wie es ist, bei der Vorstellung mit meinem Namen gefragt zu werden, woher ich denn eigentlich komme und ich habe auch keine Ahnung, wie sich Catcalling aus einem vorbeifahrenden Auto in den frühen Morgenstunden nach dem Fortgehen anfühlt.


Ja, damit habe ich nicht nur den gesellschaftlichen Lotto-Sechser geknackt, sondern auch den Jackpot der Privilegien gewonnen.


Und ich bin nicht allein.


Die Geschäftsführung der 200 umsatzstärksten Unternehmen in Österreich ist zu 90 Prozent männlich. (Quelle) Seit 1945 stand hierzulande nur eine einzige Frau an der Spitze der (Übergangs-)Regierung und noch immer sehen große Institutionen und Parteien die heteronormative Gesellschaft als Idealbild.


Meine Privilegien sind also fest verankert und ich könnte eigentlich ruhig schlafen. Und ich habe tatsächlich die meiste Zeit meines Lebens die Augen verschlossen. Und geschlafen. Ziemlich ruhig sogar.


Wir, die Mehrheitsgesellschaft, sehen uns nicht als privilegiert. Wir wissen, dass dort und da mal Dinge passieren, die nicht in Ordnung sind. Einzelfälle eben. Aber grundsätzlich läuft es meistens rund. Wir schauen nach links und rechts und erhalten Bestätigung. Kognitive Wahrnehmung eben.


Wir sehen, was wir sehen wollen.


Was passiert aber, wenn wir einmal doch neugierig werden und einen genaueren Blick auf diese Einzelfälle werfen? Also unsere bisherige Wahrnehmung auf den Prüfstand stellen? Hinterfragen. Und wie gehen wir damit um, wenn wir dann erkennen, dass diese Einzelfälle doch keine Einzelfälle, sondern gängige Praxis sind? Dass wir aufgrund unserer Biografie, unserer Geschlechtsidentität, unserer sexuellen Orientierung Chancen und Möglichkeiten haben, die unsere Sitznachbarin in der U-Bahn oder unser Arbeitskollege mit Migrationsbiografie nie gehabt haben? Wie gehen wir damit um, wenn wir, die Teil der Mehrheitsgesellschaft sind, unsere Privilegien erkennen, wenn wir die Augen öffnen?


Ich kann nur für mich sprechen: Zuerst einmal nicht wahrhaben wollen.


Sich den eigenen Privilegien bewusst zu werden, geht oft mit der Angst einher, eben diese Privilegien und die damit verbundenen Vorteile wie Macht, Status oder den gewohnten, komfortablen Lebensstandard zu verlieren. Wo wäre dann mein Platz in der Gesellschaft ohne diesen gewohnten Privilegien?


An diesem Punkt müssen wir, die Privilegierten, uns irgendwann doch ein paar harte Fragen stellen und den Mut haben, diese Fragen auch ehrlich zu beantworten: Welche Vorstellungen und Visionen haben wir von der Welt, in der wir leben wollen? Und woran wollen wir in dieser Welt gemessen werden?


An unserer Hautfarbe? Unserem biologischen Geschlecht? Unserer sexuellen Orientierung? An unserem Nachnamen? Oder an unseren Werten? Unseren Leistungen? Unseren Visionen?

Auch hier kann ich wieder nur für mich sprechen: Ich möchte in einer Welt leben, in der meine langjährige Kollegin bei gleicher Qualifikation nicht weniger Chancen auf die Beförderung hat als ich. Oder im Umkehrschluss: In der ich aufgrund meiner Leistung befördert werden und nicht aufgrund meines Geschlechts. Ich möchte in einer Welt leben, in der Hautfarbe und Migrationsbiografie keine Entscheidungskriterien bei der Wohnungsvergabe oder im Bewerbungsverfahren sind. Und ich möchte in einer Welt leben, in der es keinen Unterschied macht, ob mich mein Ehering an "her", "him" oder "them" erinnert.


Reflexion der eigenen Privilegien funktioniert aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Wenn die eigenen Werte angegriffen werden, reagieren wir üblicherweise mit einem Gegenangriff und die kommunikative Türe zum Dialog schließt sich.


Dabei brauchen wir vor allem diesen Raum für Gespräche und einen Dialog über Themen, die polarisieren und die von unterschiedlichen Meinungen begleitet werden. Reflexion erfordert ein Hinhören und Zuhören, vor allem dann, wenn unsere Meinung herausgefordert wird, wenn Menschen anderer Ansicht sind und neue Perspektiven anbieten, selbst wenn sie dem Gewohnten entgegenstehen.


Ich bin deshalb voller Vorfreude und kann es kaum erwarten, dass ich in Kürze so einen Raum im Podcast-Format zur Verfügung stellen und mit unglaublich tollen Interviewpartner:innen teilen darf. "(K)eine Ansichtssache - der Podcast für neue Perspektiven" wird mein neuer Podcast heißen, in dem Themen, die uns als Gesellschaft beschäftigen, von unterschiedlichen Seiten beleuchtet werden. Ein offener Dialog mit verschiedenen Meinungen und neuen Sichtweisen für ein verständnisvolleres Miteinander.


Wie stehst du zu diesem Thema? Teile deine Meinung in den Kommentaren!


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